Tora lernen? Mit Christen in Deutschland? In einem Kloster?
Warum nicht?
Wer die Anfänge miterlebt hat, erinnert sich an Lernwochen, bei denen eine besonders gelöste und herzliche Atmosphäre vorherrschte.
Fotos aus jener Zeit (Rb 108 vom 12.12.2014) strahlen eine Stimmung aus, als ob wir uns auf festlichen Treffen mit alten Freunden befänden. Dabei waren es ganz junge Freundschaften, erste Begegnungen, nur wenige Jahre alt.
Man sieht unseren jüdischen Gästen nicht mehr an, wie schwer es ihnen gefallen war, nach Deutschland zu kommen: Was hatten sie in diesem schrecklichen Land zu tun? Was hatten sie in der Begegnung mit diesen Menschen zu erwarten, die als feindseliges Volk sie unterdrückt und ausgestoßen hatten? Und die ihnen nach dem Leben trachteten und sie, die Juden, „auszulöschen“ suchten?
Und waren die Kirchen diesem Hass und diesem Morden entgegengetreten? Hatten sie versucht, sich auf die Seite der Verfolgten zu stellen und ihnen zu helfen? Jahrhunderte lang hätten sie sich in dieser Nächstenliebe üben können, doch was haben sie getan? Es gab doch keinen Anlass, nach Deutschland zu reisen, mit deutschen Christen sich zusammenzusetzen – und das alles noch in einem ehemaligen Kloster!
Doch, es gab einen Grund, den Schritt zu wagen! Diese Christen, die sie eingeladen hatten, wollten mit ihnen Tora lernen. Sie wollten von ihnen hören, mit ihnen erfassen, was die Torah für sie, die Juden, bedeutet: Wie sie mit der Tora leben, wie die Tora ihnen den Weg zeigt, und wie die Tora ihnen in schweren Zeiten hilft und sie trägt.
Unter den jüdischen Gästen gab es welche, die sich mit ihrem Rabbiner besprochen hatten, ob sie auf unsere Einladung eingehen und nach Deutschland fahren sollten.
Die Antwort eines Rabbiners war:
Wenn es die jungen Deutschen ernst meinen, wenn Du ihnen vertrauen kannst, und wenn Du stark genug bist, in dieses Land zu fahren, dann geh! Und lerne Tora mit ihnen! und auch ein Kloster soll Dich nicht daran hindern!
Unsere jüdischen Gäste kamen und wurden unsere Lehrer. Und unsere Lehrer wurden unsere Freunde!
Und der Kapitelsaal im Kloster Denkendorf wurde zum Bet Knesset, zur Synagoge, wo man Erwachsenen und Kindern die Torahrolle zeigen und erklären konnte; wo man lernen und wo man beten und den Schabbat gemeinsam feiern konnte.
Es gab so immer wieder ein „jüdisches Klosterleben“, an dem nicht nur unsere jüdischen Lehrer und ihre christlichen „Schüler“ teilnahmen, sondern auch unsere Mitarbeiter und Dozenten und die anderen Gäste im Haus. Der Landesbischof aus Stuttgart konnte sich mit der Hauswirtschaftsleiterin unterhalten und erfuhr dabei, was eine koschere Küche braucht und wie sie funktioniert. – Es war eben ein echtes Klosterleben.
Bald 4 Jahrzehnte liegen diese Zeiten nun schon zurück. Von den ersten Lehrern leben nur noch wenige; die meisten sind schon gestorben. Wer von uns sie erlebt und mit ihnen gelernt hat, bewahrt sie in dankbarer Erinnerung.
Andere jüdische Gäste, Lehrer und Freunde rückten nach; das Kloster bekam in Israel einen guten Namen.
Seit Ende 2009 gibt es das Kloster Denkendorf leider nicht mehr. Es wurde eingespart. Aber das in Denkendorf begonnene Gespräch zwischen Christen und Juden geht in der württembergischen Landeskirche weiter. Mögen die Tora-Lernwochen stets unsere Feste bleiben!
Hartmut Metzger
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Weitere Artikel über die Arbeit in der Fortbildungsstätte Kloster Denkendorf:
(wird weiter ergänzt!)
Dialog mit gesetzestreuen Juden, aus Denkendorfer Rundbrief 110 vom 12.12.2015.
"Das Kloster Denkendorf": gestern - heute - morgen", aus Rundbrief 108 vom 12.12.2014.
"Tora-Lernen im Kloster Denkendorf", aus Rundbrief 108 vom 12.12.2014.
"Jüdisches Klosterleben" in Denkendorf, aus Rundbrief 109 vom 08.05.2015.
"Was sich im Kloster Denkendorf so alles getan hat", aus Rundbrief 102 vom 17.02.2012.
"Kaschrut und Jüdischkeit ziehen ins Kloster ein" aus Rundbrief 98 vom 12.12.2009.
"Schabbatfeier mit der Kirchenleitung im Kloster" aus Rundbrief 98 vom 12.12.2009.
"Was wird aus dem "Kloster Denkendorf?" aus Rundbrief 98 vom 12.12.2009.
"Sie waren "Denkendorfer" aus Israel" aus Rundbrief 98 vom 12.12.2009.
"Zwei Jubiläen an einem Nachmittag - 60 und 30 Jahre" aus Rundbrief 95 vom 12.12.2008.
"Zum christlich-jüdischen Dialog im deutschen Südwesten nach 1945" von Pfr. Dr. Michaerl Volkmann (10.05.2007). HIER der Link zu AG Wege zum Verständnis des Judentum.